Vor rund 50 Jahren wurde Maxim Gorkis „Die Letzten“ im Schauspielhaus Magdeburg, damals noch unter dem Namen Maxim-Gorki-Theater bekannt, in Deutschland uraufgeführt. Dieses für die Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt geschichtsträchtiges Werk ist nun erneut auf der Bühne zu sehen. Die Regie des Familiendramas übernimmt der aus dem Film und Fernsehen bekannte Schauspieler Milan Peschel.
Nach seiner Suspendierung hat der ehemalige Polizeichef Iwan Kolomizew (Zlatko Maltar) mit familiären Problemen zu kämpfen. Er schickt seine Frau Sofja (Antonia Schirmeister) zu seinem Bruder Jakow (Michael Kamp), den sie wie eine Weihnachtsgans ausnehmen soll. Beide hatten einst ein Verhältnis zueinander. Aus dieser Liebe entstand Ljubow (Carmen Steinert), die nicht weiß, dass Jakow ihr Vater ist. Nachdem Iwan sie als Kind die Treppe hinuntergestoßen hat, muss sie mit einem Buckel leben. Das Verhältnis zwischen Iwan und Ljubow ist gänzlich zerüttet. Der Sohn Alexander (Marian Kindermann) eifert seinem Vater nach und ist ein Großmaul. Tochter Nadeshda (Léa Wegmann) eine intrigierte Schlange. Nur die jüngsten Kinder, Pjotr (Daniel Klausner) und Wera (Maike Schroeter) versuchen einen Ausweg zu finden und wollen ein gesittetes Leben führen.

Maxim Gorki fasste als echter Dramatiker seine direkten Erfahrungen mit den Erlebnissen der Februar-Revolution 1905 zusammen. Daraus resultierte ein Stück, welches anhand der Familie Kolomizew einzelne Aspekte der Gesellschaftskritik zeigt. Jeder achtet nur auf sich selbst. Auf die Gefühle anderer wird keine Rücksicht genommen. Wer Geld hat, hat automatisch auch bessere Chancen zum Überleben. Die Armen und Schwachen werden als menschliche Fußabtreter benutzt. Dies wird auch in der Inszenierung von Milan Peschel deutlich. Er schafft es in drei Stunden, jeden Charakterzug der Protagonisten hervorzuheben, was bei einem zwölfköpfigen Ensemble keine leichte Aufgabe ist. Doch es ist deutlich spürbar, dass er sich mit dem Stoff Gorkis intensiv auseinandergesetzt hat, um seine Produktion von anderen abzuheben. Dabei verlangt er emotional viel von den Schauspielern ab. Sie müssen den überwiegend leeren Bühnenraum, der von Magdalena Musial mit einem drehbaren Holzhaus ausgestattet wurde, mit Leben füllen. Dabei spiegelt das Bühnenbild das Innere einzelner Figuren Gorkis wider. Durch die lautstarken Konflikte spürt man aber die Unzufriedenheit über das eigene Leben und versucht es durch das Abschieben von Fehlern auf andere besser zu machen.
Der Zuschauer selbst wird im Zwiespalt stehen, auf wessen Seite er sich schlagen soll. Mit Antonia Schirmeister als Sofja, die unter ihrem Mann leidet, aber seit Jahren zu schwach ist, ihn zu verlassen, empfindet man schnell Mitleid. Auch dass sie und der kranke Jakow keine gemeinsame Zukunft haben werden, berührt den ein oder anderen Rezipienten. Und Michael Kamp rührt mit seiner Liebe zu Sofia und seiner Tochter Ljubow fast schon einzelne Besucher zu Tränen. Carmen Steinert wirkt als Ljubow extrem verbittert. Doch ihr Herz liegt auf der Zunge und sie lässt sich nicht alles gefallen, was man ihr an den Kopf wirft. Susi Wirth wirkt wie eine engelsgleiche Erscheinung, wenn sie als Frau Sokolowa auftritt. Sobald sie die Bühne betritt, könnte man eine Stecknadel im Heuhaufen fallen hören. Sie verzaubert nicht nur die Figuren auf der Bühne, sondern auch das Publikum. Neben ihr agiert vor allem Thomas Schneider in der Rolle der Fedossja als Sympathieträger der Geschichte. Er nimmt mit einigen komischen Aktionen dem Stoff ein wenig die Schwere und lockert die Situationen auf. Auch Matthias Rheinheimer als Doktor Leschtsch schafft es trotz seines berechnenden Charakters das Publikum zu unterhalten. Doch in dem Stück gibt es auch – und vor allem – Protagonisten, deren Handlungen vereinzelt für angewiderte Gesichter in den Zuschauerrängen sorgen. Da ist beispielsweise Léa Wegmann in der Rolle der Nadeshda, die sehr von sich überzeugt ist und mit ihren Reizen nicht geizt. Damit sie ihren Willen kriegt, scheut sie sich auch nicht davor, ihren eigenen Vater zu bezirzen. Apropos Vater: Dieser wird von Zlatko Maltar gespielt. Und wo der Name Zlatko Maltar im Programm steht, da ist auch Zlatko Maltar drin. Dieser ist als Iwan nur mit sich selbst und seinen eigenen Problemen beschäftigt. Anstatt die Fehler bei sich selbst zu suchen, macht er seine Familie zum Sündenbock. Durch die Boshaftigkeit und Zerissenheit seiner Figur hinterlässt er beim Rezipienten einen faden Beigeschmack. Damit beweist er erneut, dass er ein fantastischer Charakterdarsteller ist und genau die Emotionen beim Publikum auslöst, die seine Rolle hervorrufen soll.

Daniel Klausner als Pjotr und Maike Schroeter als „Die Letzten“ sind die einzigen Kinder, die den konfliktreichen Familienumständen aus dem Weg gehen wollen und ihre eigene Vorstellung vom Leben haben. Sie sträuben sich gegen die Entscheidungen der Eltern, müssen letztendlich doch feststellen, dass es keinen Ausweg gibt. Sie können lediglich ein Zeichen setzen, dass Macht und Geld nicht die wichtigsten Güter sein sollten, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Besonders bleiben dabei die Zeilen von Schroeters Figur haften, die darüber spricht, warum sie keine Kinder in die Welt setzen möchte. Und Klausners Pjotr weist schonungslos auf, warum Blut nicht immer dicker als Wasser ist und warum Kinder nicht automatisch alles gutheißen müssen, was ihre Eltern im Leben verbockt haben.
Milan Peschels Inszenierung von Maxim Gorkis „Die Letzten“ ist ein sensibles Familiendrama, welches so vielleicht bisher noch auf keiner Bühne zu sehen war, aber genau so auf die Bühne gehört. Er klammert sich nicht an dem Originaltext fest, sondern lässt auch noch andere bekannte Passagen Gorkis mit einfließen, um der Handlung ein wenig mehr Tiefe zu verleihen und die einzelnen Charaktere zu prägen. Letztere zeichnen durch ihren körperlichen Einsatz das gesamte Stück aus. Jeder von ihnen besitzt mindestens eine Eigenschaft, die auch in der heutigen Zeit überdosiert als problematisch gesehen wird. Das Aufeinandertreffen der Akteure sorgt für eine langanhaltende Spannung beim Publikum. Neben der Hauptproblematik gibt es aber auch Momente, die zum Schmunzeln oder gar zum Lachen einladen. Eine rundum gelungene Produktion, die vielleicht nicht jeder mögen, aber die Faszination für einzelne künstlerische Darstellungen wecken wird. Und wer nur reingeht, weil Milan Peschel Regie führt, der wird möglicherweise danach sagen: „Hey, der kann ja nicht nur gut schauspielern, sondern auch Theater machen.“