Das Ende des Mythos Familie: „Rosige Aussicht“ in der Komödie am Kurfürstendamm

Bess Wohls „Grand Horizons“ war ein voller Erfolg am Broadway. Unter dem Namen „Rosige Aussicht“ ist die Komödie nun erstmals in Deutschland zu sehen. Titus Selge inszeniert das Stück in der Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater – und zwar mit seinen Anverwandten.

Die Eheleute Bill (Edgar Selge) und Nancy French (Franziska Walser) sind seit 50 Jahren miteinander verheiratet. Doch Nancy hat nun genug und fordert die Scheidung. Bill willigt ohne Widerstand ein. Aber da hat das Ehepaar die Rechnung ohne seine Kinder Brian (Christoph Förster) und Ben (Jakob Walser) sowie dessen schwangere Frau Jess (Janina Rudenska/Melanie Schmidli) gemacht. Sie wollen nicht, dass die Familie auseinanderbricht und setzen alles daran, ihre entschlussfreudige Mutter und Schwiegermutter dazu zu bewegen, ihre Entscheidung zu überdenken – vor allem jetzt, wo das erste Enkelkind unterwegs ist. In was für Verhältnissen soll das Ungeborene denn bitteschön aufwachsen? Doch das plötzliche Ehe-Aus ist nicht das einzige Streitthema im Hause French …

Bill (Edgar Selge) und Nancy French (Franziska Walser) wollen sich scheiden lassen. Foto: Franziska Strauss
Bill (Edgar Selge) und Nancy French (Franziska Walser) wollen sich scheiden lassen. Foto: Franziska Strauss

Wir alle haben eine Vorstellung davon, wie wir uns eine ideale Familie vorstellen. Vor einigen Jahren war für viele Menschen eine Eheschließung unabdingbar. Außenstehende stellten die Liebe des jeweiligen Pärchens sogar infrage, wenn sie sich entschlossen, nicht vor den Traualtar zu schreiten. Heute hat sich die Sicht auf die unterschiedlichen Beziehungsmodelle gewandelt. In „Rosige Aussicht“ werden die Klischees einer Ehe über den Haufen geworfen und die Selbstbestimmung an erster Stelle gestellt.

Die deutschsprachige Erstaufführung der Bühnenproduktion ist etwas ganz Besonderes. Denn Edgar Selge und Franziska Walser sind auch in der Realität seit etlichen Jahren ein Paar . Doch damit noch nicht genug. Ihr richtiger Sohn Jakob ist ebenfalls mit von der Partie – und die wird von keinem Geringeren als ihrem Neffen Titus Selge inszeniert. Ein fast reines Familienstück, bei dem der Rezipient mit dem Wissen das Gefühl bekommt, bei einem echten Familiendrama durchs Schlüsselloch zu gucken.

Franziska Walser spielt eine entschlossene Nancy French, die ihre letzten Lebensjahre nicht mehr mit Lügen verbringen möchte, mit denen sie über Jahre hinweg gelebt hat, nur um das Bild einer perfekten Familie nach außen zu tragen. Denn die Wahrheit ist: Bill ist gar nicht ihr Traummann und schon gar nicht die Liebe ihres Lebens. Vielleicht zum ersten Mal denkt Walsers Nancy endlich mal an sich selbst und an ihre Bedürfnisse, die sie all die Jahre zurückgeschraubt hat. Selges Bill hingegen wirkt ziemlich blass und wird schon fast zu einer Randfigur, obwohl er im Hauptkonflikt fest mit integriert ist. Kurzum: Er geht leider ein wenig unter, was ziemlich schade ist. Doch was erst später im Laufe der Handlung klar wird: Nancys Entscheidung, nach 50 gemeinsamen Ehejahren einen Schlussstrich zu ziehen, kommt nicht von ungefähr. Denn auch Bill hat ein schmutziges Geheimnis, das er vor seiner Frau und seinen Kindern versucht, zu verbergen.

Jess (Janina Rudenska) und Ben (Jakob Walser) haben auch keine leichte Zeit. Foto: Franziska Strauss

Aber nicht nur die French-Senioren bringen Probleme mit auf die Bühne, sondern auch die beiden Juniors. Ben, der von Jakob Walser gespielt wird, steht kurz davor, zum ersten Mal Vater zu werden. Er ist der Ältere der beiden Brüder und bekommt schon sein ganzes Leben mehr Ansehen als Brian. Denn er ist auch derjenige, der für Nachkommen in der Familie sorgt. Walsers Ben fühlt sich als Hauptmanager der Familienangelegenheiten und entpuppt sich als tickende Zeitbombe. Obwohl die Rolle leider auch ziemlich unbedeutend ist, stiehlt die Figur von Jess ihm die Show. Denn Rudenskas Jess ist trotz Schwangerschaft und Probleme in der Familie eine absolute Powerfrau. Sie weiß ganz genau, was sie will und hat keine Scheu davor, ihrem Partner auch mal ein paar Takte anzusagen, wenn er sie mal wieder bei einem Kosenamen nennt, für den sie sich mittlerweile viel zu alt fühlt. Als Therapeutin versucht sie, alle Angelegenheiten unabhängig voneinander zu behandeln und auf die Belange jedes einzelnen Familienmitgliedes einzugehen, ohne Partei zu ergreifen. Doch irgendwann merkt sie, dass sie gegen Wände spricht und ihre eigene Ehe sich im verflixten siebten Jahr befindet und somit auch nicht alles rosig verläuft.

Wenn man das Stück nach dem Besuch in der Komödie am Kurfürstendamm nochmal für sich Revue passieren lässt, ist es vor allem die Figur des Brian, die einem möglicherweise am meisten in Erinnerung geblieben ist. Bereits zu Beginn wird deutlich, dass er es als Jüngster etwas schwieriger bei seinen Eltern hatte. Da rückt der Ehekrach schon fast in den Hintergrund. Denn Försters Brian fühlt sich schon seit Kindheitstagen einsam. Besonders setzt ihm zu, dass seine Eltern ihm nur wenig Zuneigung und Aufmerksamkeit geschenkt haben und seine Arbeit als Theaterpädagoge nicht sonderlich ernst nehmen. Liebe kam in seinem Leben eindeutig zu kurz. Ihm fällt es schwer, sich zu binden. Das Einzige, was ihn wirklich mit Freude erfüllt: die Arbeit mit Kindern. Denn sie schenken ihm die Anerkennung, für die er sein ganzes Leben lang gekämpft hat. Und er versucht im Gegenzug den kleinen Knirpsen das zu geben, was ihm sein ganzes Leben lang über verwehrt wurde: Liebe. Besonders ergreifend sind die Szenen zwischen ihm und seinem Vater. Denn Förster versucht vor allem die Aufmerksamkeit seines Erzeugers zu erlangen, indem er ihm Hilfe anbietet und sich fast schon krankhaft um ihn kümmern möchte. Doch er wird kaum eines Blickes gewürdigt und seine Vorschläge werden nonchalant abgewunken.

Brian (Christoph Förster) führt ein inniges Gespräch mit seiner Mutter Nancy (Franziska Walser). Foto: Franziska Strauss

Bühne (Stéphane Laimé) und Kostüm (Nici Zinell) sind ziemlich originell. Die Haushälfte mit Blick auf Küche und Wohnzimmer vermittelt schnell den Eindruck einer Sitcom, doch das Bühnenbild wird später noch ausgeweitet. Die Darsteller und Darstellerinnen nutzen den kompletten Raum, in dem sie doch für sich ziemlich verloren wirken. Es ist eben nun viel mehr als nur eine lapidare Ehekrise, mit denen die Besucher und Besucherinnen konfrontiert werden.

Wer denkt, dass man in der Inszenierung von „Rosige Aussicht“ in der Komödie am Kurfürstendamm zwei Stunden durchlachen kann, der täuscht sich. Es ist vielmehr eine Tragikomödie und weniger eine klassische Boulevardkomödie, mit der man es hier zu tun bekommt. Denn jede einzelne Figur bringt realitätsnahe Probleme mit, mit denen wir uns so oder so ähnlich auch schon mal auseinandersetzen mussten und vielleicht in diesem Moment sogar müssen. Nicht nur mit zwischenmenschlichen Streitthemen glänzt die Bühnenadaption, sondern sie trifft auch in Sachen Klima- und Flüchtlingskrise den Zahn der Zeit. Vor allem aber räumt das Stück mit dem klischeehaften Denken einer Ehe auf und zerstört den heiligen Mythos der Familie. Spaß ist in jedem Fall garantiert, allerdings in Maßen. Vor allem Förster dürfte mit seinem Facettenreichtum die Herzen der Zuschauer und Zuschauerinnen für sich gewinnen.

Wer denkt, das Stück verpasst zu haben: Im März geht es weiter – allerdings in der Komödie im Theater am Potsdamer Platz. Alle Informationen rund um die Inszenierung und um den Umzug findest du hier.

Haben Bill (Edgar Selge) und Nancy (Franziska Walser) doch noch eine gemeinsame Zukunft? Foto: Franziska Strauss

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