Das Theater Magdeburg arbeitet seit zwei Jahren mit dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) zusammen. In diesem Jahr war es das Ziel, junge Studierende beim Schreiben für das Theater zu fördern. Dabei sind zwei Dramolette von neun angehenden Autoren entstanden, die bei dem Entstehungsprozess Hilfe von David Schliesing bekamen. Die filmische Collage „Der noch viel größere Terror“ und die szenische Lesung „Vor lauter Wand“ sind als Ergebnis im Schauspielhaus Magdeburg zu sehen.
„Der noch viel größere Terror“ von Viktor Dallmann, Katharina Merhaut, Katharina Kern und Mathis Kießling eröffnet eine Welt, wo sich das Leben hauptsächlich nur noch vor dem PC abspielt. Die Menschen verschanzen sich in ihren Kellern und kommunizieren nur noch im Internet-Chat und via Liveübertragung miteinander. Sie fürchten sich ins normale Leben zu begeben. Grund dafür ist die App „Obacht“, welche die Bewohner über mutmaßliche oder bereits geschehene Terroranschläge informiert. Meistens irrt sie sich jedoch. Irgendwann tritt der Moment ein, wo „Obacht“ nicht mehr gebraucht wird. Das setzt der App, die eine Art Eigenleben entwickelt, ziemlich zu. Die Aufmerksamkeit der Menschen liegt ganz bei dem Förster Rudi und seinem Schwein Wolli, welche als einzige Wesen den Gang an die frische Luft wagen. Doch das Misstrauen gegenüber den zwei Mutigen wächst immer mehr, als Vlogger Rudi eine Beobachtung macht, von der er nur erzählt und welche die Internet-User nicht sehen können. Ist er etwa ein Bot? Wer von den auftretenden Personen ist überhaupt real? Die vier Autoren legen viel Tempo in das filmische Geschehen. Auftretende Chatverläufe, welche sich zwischen den Schauspielern Carmen Steinert, Zlatko Maltar, Antonia Schirmeister und Daniel Klausner abspielen, sind meistens nicht bis zum Ende lesbar. Das ist zwar anstrengend, erweckt aber jedoch den Eindruck, dass es genau nach dem heutigen Prinzip der Nutzung der sozialen Netzwerke geht. Eine Flut von Informationen prasselt täglich auf den kleinen und großen Bildschirmen ein, wovon nur noch fetzenweise etwas aufgenommen werden kann. Das veranschaulichen die Autoren des Films sehr eindrucksvoll und realistisch. Was ihnen auch geglückt ist: Sie zeigen, dass es nicht immer die Ausnahmesituationen sind, die einem Angst und Bange werden lassen. In der heutigen Zeit sind es Fake News und Bots, mit denen sich die Menschheit täglich auseinandersetzen muss. Da bietet die Figur des Förster Rudi (Lukas Paul Mundas) die perfekte Angriffsfläche für Spekulationen. Die Funktion der Vorwarn-App rückt immer mehr in den Hintergrund. Und somit wird das traurige Bild eröffnet, dass die Menschen sich nicht weniger vor potentiellen Anschlägen fürchten, sondern es mehr der Normalzustand ist, der von vielen als selbstverständlich angesehen und nicht ausreichend hinterfragt wird, warum er eingetreten ist.
Nachdem der Abend hastig begonnen hat, geht es im zweiten Teil etwas ruhiger zu, dennoch nicht unspannender. In der szenischen Lesung „Vor lauter Wand“ ist es nicht der Mensch selbst, der durch bestimmte Faktoren zu einer Isolation der auftretenden Figuren beiträgt, sondern die Natur, die Einfluss auf das Leben nimmt. Mia Göhring, Selma Imhof, Louise Kenn, Anna Kira Koltermann und Leonard Marx zeigen ihr Ergebnis anhand von zwei unterschiedlichen Geschwisterpaaren, deren Welt sich in einem Nebel hüllt. Anne Hoffmann und Björn Jacobsen alias Penny und Günther irren durch eine namenlose Stadt und können nicht erkennen, was vor ihnen liegt. Immer mehr umhüllt der Nebel ihren Geist und lässt die Hoffnung auf bessere Aussichten schwinden. Zumindest ist es bei Jacobsens Günther der Fall. Hoffmann agiert in der Figur von Penny als Hoffnungsträger, merkt aber, dass sie zu scheitern droht und ihren Weg womöglich alleine weitergehen muss. Der Nebel nimmt immer mehr zu, umhüllt nicht nur die Schauspieler, sondern auch das Publikum, welches in der auftretenden Problematik ebenfalls gefangen scheint. Es sind nur wenige Lichtquellen, die zum Einsatz kommen. Meistens sind nur die Silhouetten der Protagonisten zu erkennen. Die Mimik lässt sich nur erahnen. Das hat eine starke Wirkung auf den Rezipienten. Jeder Anwesende im Studio fühlt sich der Situation komplett ausgeliefert. So auch Bernd (Christoph Förster), der gegen den Krebs ankämpfen muss, sich aber bereits aufgegeben hat. Er möchte die Ereignisse in Form eines mündlichen Tagebucheintrages festhalten. Die Einsamkeit frisst ihn immer mehr auf. Seine Schwester Kriemhild (Carmen Steinert) schaltet sich gelegentlich per Videostream in die Szenen dazu. Sie will dem Nebel entfliehen und versucht mit allen Mitteln der Situation zu entkommen. Es sind zwei unterschiedliche Geschichten, die jedoch vieles gemeinsam haben. Beide erzählen von Zukunftsängsten und der möglichen Aussichtslosigkeit. Aber auch Einsamkeit wird zu einem zentralen Thema gemacht. Den Akteuren fehlt die Antriebslosigkeit und sie fühlen sich der Welt ausgeliefert. Die persönlichen und gesellschaftlichen Dispute, welche an dem Abend sichtbar wurden, bieten am Ende noch Zeit für Spekulationen. Denn in welche Richtung sich die beiden Geschichten entwickeln, bleibt ungewiss.
Mit den zwei Dramoletten, die David Schliesing zusammen mit dem DLL-Kollektiv erarbeitet hat, wird viel Stoff zum Nachdenken geboten. „Der noch viel größere Terror“ sowie „Vor lauter Wand“ stehen zwar im völligen Kontrast zueinander, erschaffen aber Welten, die heute zum Teil schon existieren. Es werden viele „Was wäre, wenn“-Momente in den Raum geworfen, die teilweise einen faden Beigeschmack hinterlassen. Während es in der filmischen Collage noch über auftretende digitale Probleme geht, die Auswirkungen auf das menschliche Verhalten haben könnten, ist es in der szenischen Lesung eher die Antriebslosigkeit und das Ausgeliefertsein in einer isolierten Welt. Die angehenden Autoren haben einen Doppelabend auf die Beine stellen können, der noch ein wenig in den Köpfen der Rezipienten verharren wird.
*Foto: Nilz Böhme