Sobald Thomas Ostermeiers Inszenierung von „Richard III.“ an der Schaubühne in Berlin wieder auf dem Spielplan steht, handelt es sich nur um wenige Minuten, bis die Vorstellungen alle restlos ausverkauft sind. Welche Szenen sich an den Abenden der Aufführungen abspielen, kennt man meistens nur von besonders begehrten Konzerten oder Fußballspielen. Diverse Interessenten versammeln sich bei Wind und Wetter vor dem Theater mit einem Schild, auf dem geschrieben steht, dass sie noch Tickets für das Stück suchen. Die Nachfrage nimmt einfach nicht ab. Doch welche Faszination verbirgt sich hinter der Ostermeier-Produktion?
Richard (Lars Eidinger) ist hässlich und von missgebildeter Gestalt. Und trotzdem hat er auf den Schlachtfeldern der Rosenkriege gute Dienste geleistet. Doch glücklich macht ihn das nicht. Er empfindet nichts als puren Hass für die Welt. Es ist die Krone, die er begehrt. Um diese zu erlangen, ist ihm jedes Mittel recht und scheut nicht davor, seine eigene Blutlinie auszulöschen. Am Ziel angekommen erkennt er, dass auch der Besitz eines Königreichs nichts an der Tatsache ändert, dass er der ist, zu dem ihn die Natur gemacht hat.

Das Drama um „Richard III.“ gehört mit zu den ersten Stücken, die William Shakespeare auf die Bühne brachte. Eine geschichtsträchtige Gestalt, die der Teufel in Person zu jener Zeit gewesen sein musste. Noch heute ist die Menschheit fasziniert von dem Stoff des englischen Dramatikers. Wer den Wunsch hegt, diese Produktion zu inszenieren, der hat automatisch eine große Last auf den Schultern zu tragen. Shakespeare-Kenner wissen, wie komplex und gleichzeitig lückenhaft „Die Tragödie von König Richard III.“ ist. Kein Publikum könnte sich heute noch auf ein über fünfstündiges Theaterstück konzentrieren, egal ob es Pausen enthält oder nicht. Die Aufnahmefähigkeit würde irgendwann versagen. Die Handlung muss sinnvoll gekürzt werden. Allein daran scheitern schon viele Dramaturgen und Regisseure. Es ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Thomas Ostermeier hingegen scheint für seinen „Richard III.“ jedoch ein gutes Gespür bewiesen zu haben – in mehrerlei Hinsicht. Er erzählt das Stück in etwa zwei Stunden und 35 Minuten. Dabei legt er den Fokus gänzlich auf seine Titelfigur und deren Streben nach Macht und Anerkennung. Ein weiteres gelungenes Handwerk stellt die neue Prosaübersetzung des Textes von Marius von Mayenburg dar. Damit wird die Handlung für jüngere Rezipienten verständlicher und greifbarer. Aber nicht nur die Sprache wurde modernisiert. Auch von dem historischen Bild der Kostüme aus dem 15. Jahrhundert verzichtet Ostermeier in seiner Inszenierung. Florence von Gerkan lässt die Figuren in eher schlichter Kleidung auf die Bühne treten. Nur Richard III. wird manchmal in einen skurrilen Textilmix gesteckt.
Eine weitere Besonderheit dieser Produktion ist der Bau eines Globe Theatres innerhalb der Schaubühne. Dies lehnt an das elisabethanischen Theatergebäude am Südufer der Themse in London an, welches vor allem durch Shakespeare-Aufführungen einen bedeutenden Platz in der Geschichte des Theaters einnimmt. Durch diesen Nachbau erhält die Ostermeier-Produktion eine unglaubliche Intimität. Die Schauspieler sind für das Publikum aus jeder Entfernung zum Greifen nahe. Der Rezipient ist nicht nur der Beobachter eines Schauspiels, sondern wird durch die Nähe und Aufmerksamkeit der einzelnen Protagonisten mit in die Geschichte eingebunden. Diese Art von Theater hat etwas Magisches an sich. Verstärkt wird das Erlebnis durch den Einsatz von Musik, die von Nils Ostendorf komponiert und live am Schlagzeug von Thomas Witte gespielt wird. Aber auch die Verwendung von Video-Technik, die auf die von Jan Pappelbaum erschaffene Kulisse projiziert wird und der minimalistische Einsatz von Licht passen zum Stimmungsbild des Dramas und spielen mit den Emotionen der Zuschauer. Ebenfalls einprägsam sind die Auftritte von Ingo Mewes und Karin Tiefensee angefertigten Puppen, die von den Schauspielern bedient werden. Sie wirken so real, dass so manchem Rezipienten bei deren Anblick kalter Schweiß über den Rücken läuft.

Während Regisseur Thomas Ostermeier mit seinem Team das Grundgerüst dieser Produktion zusammengebaut hat, ist der eigentliche Spielemacher ein anderer. Es ist die Titelrolle selbst, die für den jahrelangen Erfolg dieser Produktion verantwortlich ist: Lars Eidinger. Er ist das Aushängeschild der Berliner Schaubühne und zählt derzeit zu den besten Schauspielern Deutschlands. Dass letztere Behauptung der Wahrheit sehr nahe kommt, zeigt er mit der Krönung dieser Titelfigur. Er nimmt nicht einfach nur die Rolle an, sondern er ist für die Dauer der Aufführung der historische König von England – mit all seinen körperlichen Deformationen. Erschreckend ist es, dass Eidinger zu einem Bösewicht wird, der mit einer Leichtigkeit das Publikum auf seine Seite zieht. Mit seiner charmanten Art und seiner intelligenten Manipulationskunst wickelt er seine Mitspieler und die Zuschauer gleichermaßen um den Finger. Er befindet sich im stetigen Blickkontakt mit den Anwesenden auf den Rängen. Dabei handelt es sich nicht nur um ein kurzes Zwinkern, sondern um einen intensiven Austausch von Blicken, der für Eidinger selbst und jeden einzelnen Zuschauer zu einem intimen Moment wird. Er weckt Vertrauen und Sympathie beim Rezipienten, welche immer wieder vergessen lassen, dass dort eine Figur auf der Bühne steht, die wortwörtlich über Leichen geht, um ans Ziel zu kommen. Während des Schauspiels wird auch immer wieder bemerkbar, dass Eidinger nicht einfach nur seinen Job auf der Bühne macht und seinen Text nach über 200 Vorstellungen herunterrattert. Durch seine Aufmerksamkeit, die er dem Publikum schenkt, wird auch deutlich, dass hier erst recht keine Vorstellung wie jede andere ist. Sobald ihm etwas auffällt, was sich außerhalb der Bühne abspielt, steigt er aus der Hülle von Richard III., wird für einen kurzen Moment die Privatperson Lars Eidinger, bringt das von ihm Gesehene zur Sprache und ist im nächsten Augenblick wieder der blutrünstige König von England. Die Kunst darin besteht, dass er es meistert, von 0 auf 100 switchen zu können, ohne dabei jemanden aus der eigentlichen Handlung zu ziehen.
Der Abend gehört einzig und allein Eidinger. Böse Zungen behaupten, dass er wie seine Rolle das Stück mit Macht an sich reißt, um zu zeigen, dass er einer der ganz Großen auf den Bühnen und in Filmen weltweit ist. Doch wer ganz genau hinsieht, der bemerkt, dass er nun mal das ist, was er ist, ohne darauf zu pochen oder es mit Mühe zu beweisen: ein Ausnahmetalent. Die Nebenfiguren sind keineswegs schlecht in ihrem Handwerk. Da wäre beispielsweise noch Moritz Gottwald, der als Richards Getreuer Buckingham auftritt. Gottwald verleiht seinem Charakter viel Gutmütigkeit. Er verhält sich Richard gegenüber wie ein bester Freund, der diesen zu seinem Ziel führen möchte, ohne dabei mit Eifersucht zu kämpfen. Buckingham kann es mit sich vereinbaren, dass er im Schatten Richards steht. Doch irgendwann muss auch er feststellen, dass er nur benutzt und gedemütigt wurde. Genau das transportiert Gottwald und bleibt auch den Zuschauern nicht verborgen. Robert Beyer sorgt vor allem als Margaret für einen eindrucksvollen Auftritt. Er feuert einen Fluch auf Richard mit verbalen Giftpfeilen ab, der selbst das Publikum erschaudern lässt. Aber letztendlich spielen alle weiteren Charaktere der Titelrolle zu. Trotz allem lassen sie sich nicht von Eidingers Präsenz mit gewollter Absicht ausstechen. Sie treiben die Handlung voran und sind für die geistige Entwicklung des missgestalteten Königs verantwortlich. Es handelt sich um ein harmonisches Zusammenspiel, wo niemand darum kämpft, mehr als der andere gesehen zu werden.

„Richard III.“ ist ein weiterer Geniestreich von Thomas Ostermeier. Mit seinem Feingefühl für Shakespeare-Stoffe hat er erneut eine Produktion auf die Beine gestellt, die nicht umsonst seit fast vier Jahren ein internationales Publikum in die Berliner Schaubühne und zu Gastspielen auf der ganzen Welt lockt. Er hat in Lars Eidinger einen König gefunden, der mit seiner charmanten Boshaftigkeit die Massen verführen kann. Ostermeier koppelt die mittelalterliche Geschichte mit dem Hier und Jetzt, was vor allem den jüngeren Rezipienten zugute kommt, ohne dabei den Blick auf das Wesentliche zu verlieren. Durch das Globe Theatre wird die Möglichkeit eröffnet, dass jeder einzelne Zuschauer mittendrin statt nur dabei sein kann. In jedem Falle kann die Erwartungshaltung des Einzelnen nicht getroffen werden. Entweder sie werden nicht erfüllt oder maßlos übertroffen. Ein Dazwischen gibt es nicht.
Ein Gedanke zu “Das Böse als Sympathieträger: „Richard III.“ an der Schaubühne Berlin”