„Bitte kein Regen.“ Das sagte ich mir den ganzen Freitag lang immer im Gedächtnis. Am Abend zuvor musste nämlich die Generalprobe zum diesjährigen DomplatzOpenAir mit dem Musical-Klassiker „West Side Story“ abgebrochen werden, da auf einmal ein starker Sturm tobte. Und ein paar Stunden später gab es einen Wechsel von Sonne, Wolken und Regen. Immer und immer wieder. Ich betete dafür, dass das Wetter zur späten Stunde wirklich gut sein würde. Meine Gebete wurden anscheinend erhört. Die Sonne lächelte noch eine Weile und es wehte nur ein leichter Wind am Domplatz. Doch auf eine Jacke konnte man nicht verzichten. Einige Zuschauer wickelten sich in Decken ein. Selbst der Oberbürgermeister der Stadt, der zwei Plätze rechts von mir entfernt saß und nur eine etwas dickere Weste trug, fror ein wenig. Aber das nahmen alle gerne in Kauf, denn vor unser aller Augen ereignete sich ein fesselndes Spektakel.

Lässig gekleidete Typen kamen aus ihren Ecken hervor. Einer trug beispielsweise ein Superman-Shirt mit einer kurzen Jeans und einer gelben Mütze. Ein anderer wiederum lief nur in einer zerrissenen Hose mit Trägern über die Bühne. Seinen nackten Oberkörper schmückten Tattoos. Viele der Jungs trugen Tattoos. Es war eine Gang. Das konnte man eindeutig an ihrem Style festmachen, der überwiegend blau war. Der Anführer von ihnen trug eine schwarze Lederjacke. Ein Mädchen, welches burschikos gekleidet war und auf ihrem grünen Rad über die Bühne fuhr, trug eine Lederjacke, auf deren Rücken „Jets“ stand. Das musste bestimmt der Name der Truppe sein. Auf einmal kam eine weitere Gruppe dazu. Sie sahen nicht aus wie Amerikaner. Sie hatten nicht nur eine andere Hautfarbe, sondern trugen hauptsächlich rote Jogginghosen und Jeansjacken, auf denen eine Hai-Applikation abgebildet war. Es stellte sich heraus, dass sie sich als die „Sharks“ bezeichneten. Schnell konnte man merken, dass sich beide Straßengangs nicht besonders gut riechen konnten. Sie leben nach ihren eigenen Gesetzen und Regeln. Eine Tanzveranstaltung, die ein Sozialarbeiter organisiert, soll die Jugendlichen näher zusammenbringen. Doch anstatt sie sich miteinander anfreunden, wird ein neuer Konflikt losgetreten. Dort verlieben sich nämlich der ehemalige Anführer der Jets in die Schwester des Anführers der Sharks ineinander. Das ist ein absolutes No-Go. Doch die beiden halten an ihrer Liebe fest, stehen aber trotzdem zwischen zwei Fronten.

Was sich ein bisschen nach „Romeo und Julia“ anhört, ist auch nicht weit von der Shakespeare-Tragödie entfernt. Dieses Mal heißen die zwei Liebenden Tony und Maria. Und es bekriegen sich nicht zwei verfeindete Familien, sondern zwei junge Straßenbanden. Das Musical, welches nach einer Idee von Jerome Robbins entstand, ist DAS Musical schlechthin. Es ist eine Art Königsdisziplin dieser Sparte. Die Geschichte, die eigentlich im New York der 50er Jahre spielt, kann auch in der heutigen Zeit immer wieder aktualisiert und interpretiert werden. Wenn Regisseur Gil Mehmert nämlich eine Sache mit seiner Interpretation für die DomplatzOpenAir-Aufführung perfekt geschaffen hat, dann die, dass man sich trotz der Kulisse der damaligen Zeit mit einer Problematik konfrontiert fühlt, die aktueller nicht sein kann. Erst ein paar Stunden zuvor erschien ein Artikel in einer Magdeburger Tageszeitung, wie sich Deutsche und Rumänen in einem Viertel der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt gegenseitig das Leben schwer machen. Bandenkriege, nicht akzeptierte Nationalitäten, Hass – es vergeht kein Tag, an dem nicht in den Medien darüber berichtet wird. Die zwei Liebenden des Musicals stehen zwischen zwei Stühlen. Sie wollen Zeit miteinander verbringen, wissen aber, dass es böse enden könnte, wenn sie von den falschen Personen erwischt werden. Sie wollen die ganzen Auseinandersetzungen nicht, versuchen diese zu vermeiden, doch scheitern daran. Und dann eskaliert die ganze Sache auch noch.

Mit Anton Zetterholm und Iréna Flury konnten zwei Hauptdarsteller gewonnen werden, die das Publikum mit ihrer Liebe zum Strahlen bringen und mit ihrem Schmerz zu Tränen rühren können. Harmonischer könnte es zwischen zwei Darstellern nicht sein. Dieses überträgt sich auch automatisch auf die Zuschauer. Wie romantisch es ist, als Tony zu seiner Maria hinaufklettert, obwohl er weiß, dass er eine Menge Ärger kriegen würde, wenn er dabei erwischt wird. Die gemeinsamen Duette sind Gänsehaut-Momente. Aber auch die Solo-Nummern gehen unter die Haut. Man wünscht ihnen nur das Beste, weil man sieht, dass sie zusammengehören. Unterstrichen wird das auch nochmal in der Szene, in denen beide sich ihre Verlobung und Heirat vorstellen. Doch wer das Stück kennt, der weiß, dass es für sie kein Happy End geben wird.
Die Musik von Leonard Bernstein wurde zu seiner Zeit völlig neu erfunden. Man wollte vom klassischen Musical wegkommen. Dieses Ziel wurde erreicht. Klassik und Moderne greifen völlig organisch ineinander, da laut des musikalischen Leiters, Kimbo Ishii, Bernstein „völlig frei von Schubladendenken war“. Die Musik ist geprägt von Jazz und lateinamerikanischen Elementen. Diese kann man kaum voneinander trennen. Einige Opern-Töne sind auch deutlich hörbar. Außerdem bleiben die Klänge nicht einfach nur an der Oberfläche, sondern sie gehen in die Tiefe. Sie sind auch während der Dialoge zu vernehmen und können somit den Seelenkosmos der Figuren auf das Publikum übertragen. Das gesamte Ensemble identifiziert sich sichtlich mit dem Stück und liefert ab.

Die Jets und die Sharks haben ihren individuellen und unverkennbaren Stil durch die Kostüme von Falk Bauer bekommen. Aber auch das Bühnenbild, für welches Jens Kilian verantwortlich ist, mit einem fahrbaren „Tankstellen-Ufo“, in welchem auch das Brautmodengeschäft und der Laden von Doc integriert sind, sorgt für schnelle Kulissen- und Atmosphären-Wechsel. Auch die Autos und Motorräder sorgen für Dynamik und Action. Das Orchester unter der Leitung des Magdeburger Generalmusikdirektors Kimbo Ishii spielt zum ersten Mal im Zentrum der Stage und nicht mehr an der Seite. Es kann also immer mal wieder gezeigt, aber auch durch ein Werbeplakat wieder versteckt werden. All diese Dinge machen dieses Ereignis vor der Kulisse des Domplatzes immer wieder zu etwas ganz Besonderem.
Die emotionalsten Momente des Musicals gibt es sichtlich hör- und spürbar am Ende des Musicals. Während Maria ihren größten Verlust betrauert, liegt es auch noch in ihrer Hand, den Frieden zwischen den verfeindeten Gangs wiederherzustellen. Eine Aussage bleibt besonders im Gedächtnis aller Menschen auf dem Domplatz: „Ich kann jetzt töten, weil ich hasse.“ Sofort schießen unzählige Fragen durch den Köpfen des Publikums, weil man mit diesem Satz zurück in die Realität katapultiert wird. Es wird einem schnell bewusst, dass dieses Stück nicht einfach nur fiktiv ist. Diese Problematiken gibt es wirklich. Die Stille, die sich auf der Bühne und auf den Rängen breitmacht, ist fast schon unheimlich. Man traut sich nicht zu atmen, weil man Angst hat, dass es die Stille durchbrechen würde. Eigentlich undenkbar, wenn man weiß, dass man sich unter freiem Himmel befindet. Man könnte meinen, dass extra für diesen Moment die ganze Welt innehält. Dann ziehen sie ab. Alle gemeinsam. Hand in Hand.
„West Side Story“ ist nicht einfach nur ein „Romeo und Julia“-Verschnitt. Das Musical erzählt so viel mehr und Gil Mehmert zeigt mit seiner Inszenierung, wie zeitlos der Stoff des Stückes ist. Beeindruckend waren demnach auch die verkaufszahlen der Tickets für das DomplatzOpenAir: Am Montag wurde auf der Pressekonferenz bekanntgegeben, dass die Vorstellungen bereits zu 98% ausgelastet sind. Wer sich „West Side Story“ also nicht entgehen lassen möchte und noch keine Karte hat, der sollte jetzt seine Beine in die Hand nehmen und sich noch ein Ticket holen. Wer keine Karten mehr kriegen sollte, der hat wirklich Pech gehabt. Oder man folgt dem Ratschlag von Anton Zetterholm: „Setzt euch einfach vor den Eingang und macht ein Picknick. So würde ich es machen.“
