Seit 2019 steht Moilères „Menschenfeind“ am Deutschen Theater Berlin auf dem Spielplan. Regisseurin Anne Lenk bringt das 1666 uraufgeführte komödiantische Drama vom 17. ins 21. Jahrhundert, ohne dabei auf den Charme der Barockzeit zu verzichten.
Der Idealist Alceste (Ulrich Matthes) hält nichts davon, seinen Mitmenschen Honig um den Mund zu schmieren. Mit seiner schonungslosen Ehrlichkeit macht er sich nicht nur Freunde. Es gibt allerdings eine einzige Person, bei dem selbst der Moralapostel leise Töne anschlägt und seine eigenen Werte über den Haufen wirft: Célimène (Franziska Machens). Die junge Witwe genießt es, bei Alceste im Mittelpunkt zu stehen. Doch der eitle Misanthrop ist nicht der einzige Mann, der um die Gunst von Célimène buhlt.
Parallelen zur Jetztzeit
Anne Lenk platziert mithilfe des Bühnenbildners Florian Lösche das Geschehen in eine Art Guckkasten, der aus unzähligen vertikal gespannten, elastischen Gummibändern besteht. Alles wird in Grau und Schwarz gehalten. Sibylle Wallum kleidet die Schauspieler und Schauspielerinnen in zeitgenössischer Mode. Kostüme und Kulisse wirken beinahe düster. Aber die Stimmung auf der Spielfläche ist alles andere als düster – zumindest für das Publikum. Es entsteht eine Mischung aus Spannung und Komik der Handelnden. Der Hergang könnte sich auch sehr gut in der aktuellen Zeit abspielen. Menschen nähren sich gegenseitig von Klatsch und Tratsch im Internet, wollen überall angesehen werden, unabhängig davon, ob sie mit ihren Taten und Aussagen ihrem Ruf schmeicheln oder schaden. Stichworte hierfür sind Social Media und Trash-TV. Das Einzige, was in der Produktion nicht so recht der Aktualität entspricht, ist die ursprüngliche Reimform von Molière (ins Deutsche übersetzt von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens), in der das Stück von den Schauspielern und Schauspielerinnen vorgetragen wird. Es ist kein Rezitieren eines dichterischen Textes im klassischen Sinne. Ganz im Gegenteil. Der Cast jongliert mit den Versen so präzise und pointiert, ohne sie dabei zu überspitzen. Das ist eine Kunst, die alle Beteiligten auf der Bühne hervorragend beherrschen und den Zuschauern und Zuschauerinnen keinen gekünstelten Eindruck vermitteln.
Ulrich Matthes präsentiert sich in der Titelrolle als eitle Spaßbremse, fühlt sich wohl in der Position als Außenseiter – und überzeugt auf ganzer Linie. Er legt keinen Wert darauf, von allen gemocht zu werden. Dabei ist es ihm auch völlig egal, ob er mit seiner Art von Ehrlichkeit die Gefühle seiner Mitmenschen verletzt. Schließlich sind diese selbst schuld, denn er äußert sich nur, wenn er explizit gefragt wird. Matthes‘ Alceste steht ständig unter Hochspannung. Vor allem wird dies deutlich, wenn er auf seine Herzdame Célimène trifft, die meisterhaft von Franziska Machens verkörpert wird. Die Schauspielerin interpretiert ihre Figur als Lebefrau, die nach dem Tod ihres Mannes gerne mit ihren Reizen kokettiert und es genießt, von vielen Männern umschwärmt zu werden. Ein Liebhaber an ihrer Seite genügt ihr nicht. Und sie ist es auch, die den Gossip vorantreibt. Machens verleiht ihrer Rolle jugendliche Naivität. Gleichzeitig ist sie aber auch abenteuerlustig und hat klare Vorstellungen von ihrem neuen Leben als Singledame. Das macht sie ihren Mitmenschen ohne Rücksicht auf Verluste klar.
Elektrisierende Disharmonie

Foto: Arno Declair
Die Beziehung zwischen Alceste und Célimène würde man heutzutage möglicherweise als toxisch bezeichnen. Denn die junge Witwe ist der Grund, warum der unglücklich verliebte Narzisst seine eigenen Ideale immer wieder in ihrer Anwesenheit über Bord wirft und nicht von ihr loskommt. Es ist schon fast unangenehm, das Hin und Her zwischen den beiden mit anzusehen. Der Altersunterschied und die damit einhergehende Lebenserfahrung der beiden Hauptdarsteller spielt dabei sicherlich auch eine Rolle, wird aber nicht konkret thematisiert. Man möchte Matthes‘ Alceste schütteln und ihn darauf aufmerksam machen, dass es da draußen noch andere Frauen gibt. Arsinoé (Judith Hofmann – eine wahrhaftige Bühnenpräsenz) zum Beispiel, die immer wieder um das Herz des unglücklich verliebten Misanthropen buhlt, jedoch daran scheitert. Lediglich Éliante (Lisa Hrdina) fällt noch halbwegs in sein Beuteschema. Aber auch nur, weil er Angst hat, irgendwann ganz alleine, also ohne Frau dazustehen. Denn wenn man Matthes‘ Interpretation des „Menschenfeindes“ ganz genau unter die Lupe nimmt und beobachtet, sieht man einen Mann auf der Bühne, dessen größte Angst es ist, keine tiefe Liebe zu erfahren.
Ein positives Gegenbeispiel einer Beziehung ist zumindest die zwischen Alceste und seinem Freund Philinte, der von Manuel Harder gespielt wird (äußerst tiefgründig) – zumindest im kumpelhaften Aspekt. Die beiden weisen auf, wie eine ideale Freundschaft aussehen könnte. Es ist auch möglich, ein friedliches Miteinander zu pflegen, ohne immer einer Meinung sein zu müssen. Denn Harders Philinte schließt sich nicht einfach den Grundsätzen seines Kompagnons an. Er teilt seine eigenen Sichtweisen mit ihm, ohne Alceste mit aller Macht (vom Gegenteil) überzeugen zu wollen. Eindrucksvoll zu beobachten ist auch das fast schon unauffällige Flirten mit Éliante (Lisa Hrdina – absolut herzgewinnend), denn dies geschieht überwiegend über flüchtige Blicke. Es wirkt schon fast wie ein liebevoller Hoffnungsschimmer zwischen dem ganzen Trubel, der sich zwischen den anderen Akteuren und Akteurinnen abspielt. Ebenso halten sich beide so gut es geht aus dem Buschfunk ihres Umfelds heraus.
Apropos Buschfunk: Diesen gibt es auf der Bühne zu Genüge. Ganz vorne mit dabei sind auch Acaste (Jeremy Mockridge – herrlich selbstbewusst als College-Casanova) und Clitandre (Elias Arens – fast unauffällig emotional). Mockridge und Arens konkurrieren in ihren jeweiligen Rollen beide um die Gunst von Célimène wie zwei jugendliche Teenager. Sie reden ihrer Angebeteten förmlich nach dem Mund und erhoffen sich dadurch, irgendwie bei ihr zu landen. Beide männliche Protagonisten könnten kaum unterschiedlicher sein, aber sie versuchen auf ihre ganz eigene Art und Weise, ihre Auserwählte für ein Techtelmechtel zu gewinnen.
Frauen wissen, was sie wollen
Besonders hervorzuheben ist in dieser Inszenierung auch die Charakterisierung aller beteiligten Damen. Sie ordnen sich nicht dem starken Geschlecht unter. Mit Nichten. Sie präsentieren sich allesamt mit starkem Selbstvertrauen. Alle wirken extrem emanzipiert, was einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Es ist sehr auszeichnend und beeindruckend von Lenk, dass sie ein Gleichgewicht zwischen Mann und Frau auf der Bühne herstellt.
Ein Auftritt, der für ordentlich Gelächter beim Publikum sorgt, ist der von Timo Weisschnur als Oronte. Seine Interpretation der Rolle ist das Paradebeispiel eines selbst überschätzten Machos. Als sein Sonett bei Alceste verrissen wird, was ihm von vornherein eh schon Mut kostet, vorzutragen, kränkt ihn das so sehr in seinem Ego, dass er diese abfällige Bewertung nicht auf sich sitzen lassen kann. Für Weisschnur ist es ein leichtes Spiel, durch seine proletenhaften Auftritte die Besucher und Besucherinnen der Vorstellung um den Finger zu wickeln.
Regisseurin Anne Lenk bringt mit ihrer Inszenierung von „Der Menschenfeind“ am Deutschen Theater ein Stück auf die Bühne, das auf satirische Weise soziale Problematiken aufweist, die über Jahrhunderte Bestand in der Gesellschaft haben. Welche Position möchte jeder Einzelne im Leben einnehmen? Welche Werte sind wem besonders wichtig? Muss man Everybody’s Darling sein? Ist es erlaubt, zu seiner eigenen Meinung zu stehen, auch wenn man nicht auf Zustimmung des Gegenübers stoßen wird? Muss man zu jedem Thema seinen eigenen Senf dazugeben oder ist es auch mal okay, wenn man sich enthält? Zu all diesen Fragen gibt es hervorragende Darstellungen und Interpretationen zu der von Moliéres erschaffenen Figuren auf der Bühne. Das Stück lebt von der schauspielerischen Leistung des Casts und schafft es auf unbeschwerte, spöttelnde und äußerst amüsante Weise, das Publikum gänzlich in seinen Bann zu ziehen. Der sprachliche Aspekt ist zudem ein absoluter Hochgenuss. Allein deswegen empfiehlt sich diese Produktion bestens für einen Klassenausflug. Obendrein lassen sich hervorragende Parallelen zur Gegenwart ziehen. Jedoch nicht nur aufgrund der Oberthematiken, sondern auch wegen der fantastischen Darstellung emanzipierter Frauen. Ein zeitloser Klassiker, der Spaß macht.

Weitere Informationen zum Stück und wann es gespielt wird, erfährst Du hier.