Die Nacht vom 20. April auf den 21. April 2018 war kurz. Ich drehte und wendete mich in meinem Bett hin und her und versuchte auszublenden, dass mein Herz im Takt eines Hardstyle-Tracks schlug. Aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Natürlich wusste ich, warum ich diese innere Unruhe verspürte. Es stand ein weiterer Spieltag meines Vereins, dem 1. FC Magdeburg, auf dem Plan. Doch es handelte sich nicht um ein gewöhnliches Drittliga-Match. An diesem Tag hatte die Mannschaft die Chance, frühzeitig in die 2. Bundesliga einzuziehen. Der Gegner: SC Fortuna Köln. Eigentlich hätte ich eine ruhige Kugel schieben können, da der Club in der Saison 2017/2018 nicht aufzuhalten war. Doch für mich war es trotzdem etwas Besonderes. Irgendwann hatte ich das Liegen satt und entschied mich dazu, eine kalte Dusche zu nehmen und streifte mir anschließend mein Trikot über.
Es fühlte sich so an, als würde die Zeit nicht vergehen. Mein Herz hatte sich nach wie vor nicht beruhigt. Bevor ich mich auf den Weg Richtung Stadion machte, telefonierte ich noch kurz mit meinen Großeltern, die an einen positiven Ausgang des Spiels glaubten. Kaum aus der Haustür raus schloss ich mich dem blau-weißen Strom an, der das gleiche Ziel wie ich hatte. Meine Aufregung stieg weiter an. Selbst meine beiden Freunde Babsy und Robin, mit denen ich traditionell immer zum Heimspiel ging, konnten mir die Anspannung nicht nehmen. Je näher ich dem Veranstaltungsort kam, desto kräftiger wurde die physische Reaktion in meinem linken Brustbereich. So unruhig bin ich noch nicht mal bei meinen mündlichen Prüfungen gewesen – geschweige denn vor einem Rendezvous. Selbst nachdem wir unsere Stammplätze in Block 1 eingenommen hatten, wurde es nicht besser. Ein kurzer Fingerspreiz-Check offenbarte, dass ich absolut kein ruhiges Händchen mehr hatte. „Bleib‘ locker! Es wird schon alles gut für uns ausgehen“, versuchte Robin mich zu beruhigen. Doch das war leichter gesagt, als getan.

Foto: imago/Jan Huebner
Dann rückte der Anpfiff immer näher. Die ersten Vereinslieder wurden angestimmt. Ich hatte jedes Mal Gänsehaut am ganzen Körper. Beim Performen der Hymne merkte ich auf einmal, dass meine Stimme ziemlich zittrig klang. Die lauten Organe von über 22.000 Zuschauern und das dazugehörige Bild vor meinen Augen brachte mich das erste Mal zum Weinen. Solche Emotionen waren mir vollkommen neu. Und dann ging es los. Schon nach fünf Zeigerumdrehungen rückte Liga 2 ein Stückchen näher. Dank Philip Türpitz lag der Ball im Tor der gelb-schwarz agierenden Gäste. Der Jubel war groß und mein Herzschlag fast lauter als die singenden Fans. Anfangs grölte ich noch lauthals mit. Doch nachdem Nico Hammann in der 33. Minute das Leder mit einem Traum-Freistoß in die gegnerische Box befördert hatte, stand ich völlig fassungslos und wie gelähmt an meinem Platz, während alle anderen um mich herum vor lauter Freude tobten. Soll das etwa schon die Entscheidung gewesen sein? Ich für meinen Teil konnte es einfach nicht glauben und verstummte für den Rest der ersten Halbzeit. Während sich meine Freunde optimistisch zeigten, dass das Ding bereits geritzt sei, versuchte ich nur, meine Emotionen irgendwie unter Kontrolle zu halten. Für mich grenzt es an einem Wunder, dass ich keinen Herzinfarkt an Ort und Stelle erlitten habe. Denn das, was dort mit meinem Körper passierte, fühlte sich definitiv nicht gesund an.
Die zweite Hälfte begann. Wenn ich ehrlich bin, habe ich kaum noch Erinnerungen an diese 45 Minuten. Ich verfolgte zwar konzentriert die Partie, aber hauptsächlich war ich damit beschäftigt, meine Hände ineinander zu verknoten und zu einer höheren Macht zu sprechen – und dabei bin ich noch nicht mal gläubig. Zudem wanderte mein Blick gefühlt alle fünf Minuten zur Anzeigetafel, um die verbliebenen Spielminuten zu checken. Dabei sind in Wirklichkeit aber nur fünf Sekunden verstrichen. Fünf Minuten vor Abpfiff nahm mich Babsy in den Arm und versuchte mir klarzumachen, dass der Drops bereits gelutscht sei. Doch ich war wie in Trance und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Zwei Minuten vor Abpfiff versuchte ich, meine Hände voneinander zu lockern und griff mit der rechten Hand in meine Hosentasche, um mein Smartphone herauszuholen und den Videoaufnahmemodus zu aktivieren. Ich musste diesen Moment einfach für mich festhalten. Was auch immer meine Pranken machten, aber zittern konnte man das schon nicht mehr nennen.
Um 15.54 Uhr war es dann vollbracht. „Der 1. FC Magdeburg ist in der 2. Bundesliga!“, ertönte die Stimme des Stadionsprechers Torsten Rohde in der Arena. Ich beobachtete, wie die Fans den Platz stürmten und spürte die Körperwärme meiner Begleiter, die mir erleichtert um den Hals fielen. Was mit mir in diesem Augenblick passierte, lässt sich noch immer nicht in Worte fassen. Mit einem Schlag fiel diese Angespanntheit von mir ab und noch nie vorher da gewesene Glücksgefühle durchströmten meinen Körper. Und als ob das schon alles gewesen wäre: Meine von mir aufgebauten Dämme brachen mit dem erlösenden Pfiff ein und ich fing an zu weinen, als hätte mir jemand gerade garantiert, dass sich mein Lebenstraum – einmal zum Wrack der Titanic tauchen – erfüllen wird. Doch anscheinend war auch genau dieser Moment ein von mir sehnlichst erwartetes Ereignis, welches ich bisher noch nicht in meine persönliche Liste so weit oben eingeordnet hatte. Wir betrachteten noch ein paar Minuten die Szene von unserem Block aus, bevor wir uns selbst auf den Rasen begaben. Auch ich hatte mittlerweile wieder meine Stimme im Griff und schloss mich erneut den Chören an. Nun stimmten sogar einige Aufstiegshelden diverse Lieder an, die eine wichtige Bedeutung für den Verein während der gesamten Saison hatten. Viel zu früh musste ich mich von Babsy und Robin verabschieden, die die Heimreise antreten wollten, während ich noch ein wenig die Atmosphäre genießen wollte. Und ich bin auch froh, dass ich es getan habe. Fremde Clubfans klatschten mit mir ab oder gaben mir eine innige Umarmung. Für einige mögen solche Aktionen ziemlich seltsam klingen, doch es fühlte sich in jenen Augenblicken gut und vor allem richtig und nach Zusammenhalt an.

Als ich das Stadion verlassen wollte, um auf die Hasselbachplatz-Partymeile zu gehen, lief ich nicht nur meinen ehemaligen Nachbarn aus meiner alten Heimatstadt entgegen, sondern auch einigen FCM-Spielern. Ich ließ es mir nicht nehmen, ihnen persönlich zum vorzeitigen Aufstieg zu gratulieren, zumal ich mit ein paar Leuten aus dem Kader in der Vergangenheit eh das ein oder andere Mal zusammenarbeiten durfte und man sich auch privat ein wenig kannte. Als ich am Allee Center angelangt war, fing mein Handy ununterbrochen an zu vibrieren. Klar, ich hatte wieder Empfang. Unzählige Nachrichtenfenster ploppten auf meinem Display auf. Ich überflog die Chats grob, denn der Inhalt war immer derselbe: Es waren Glückwünsche meiner Freunde, die das Spiel im TV oder via Liveticker verfolgt hatten. Darunter befanden sich auch einige Leute, von denen ich wusste, dass sie absolut keine Fußball-Fans sind. Und ich verstand auch ehrlich gesagt nicht so ganz, warum man mir zu diesem Erfolg gratulierte. Denn schließlich stand ich weder auf dem Platz noch habe ich etwas zu dem Ergebnis beizutragen gehabt. Trotzdem empfand ich pure Freude und fand die Geste einfach unfassbar schön. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass die ganze Stadt am Feiern war. Denn während ich dem Hasselbachplatz immer näher kam, sah ich fast nur Menschen, die in den Farben Blau und Weiß gekleidet waren und fröhlich die Vereinslieder trällerten. Aus den Häusern und Wohnungen hielten einige Menschen ihre FCM-Fahnen heraus und strahlten ebenfalls über beide Ohren – egal ob jung oder alt. Kurz vor meinem Ziel steckte mir jemand ein Extrablatt mit den ersten druckfrischen Bildern der vergangenen Partie und der schönsten Schlagzeile des Tages zu. Doch das war noch nicht alles. Auf einmal klingelte wieder mein Telefon. Dieses Mal war es ein Anruf, den ich bekam. Oma und Opa waren am Apparat. Auch sie gratulierten mir zum Aufstieg und wünschten mir noch einen unvergesslichen Abend.
Am Hassel angekommen, traf ich auf meinen Kommilitonen Tobi. Zusammen mischten wir uns unter ein Meer aus feiernden blau-weißen Fans, die vor dem M2 standen. Oberhalb des Lokals hingen Philip Türpitz, Nico Hammann und Tarek Chahed aus dem Fenster, die die zu singenden Songs vorgaben. Nie hätte ich gedacht, dass ich die Jungs jemals in so einer Atmosphäre zu Gesicht bekommen werde. Die Zeit verstrich und wir tauschten uns gemeinsam mit anderen Bekannten, auf die wir gelegentlich trafen, über dieses historische Ereignis aus und trällerten bei jedem Song mit. Als Jens Härtel uns um keine-Ahnung-wie-viel Uhr entgegenkam, fingen wir an zu klatschen und riefen laut im Chor: „Hey, hey – Meistertrainer, Meistertrainer!“ Ich konnte ein breites Grinsen in seinem Gesicht erkennen, was man in diesem Ausmaß selten zu sehen bekam. Für mich fühlte sich alles wie in einem Traum an, der zu schön, um wahr zu sein schien.
Doch je mehr Alkohol lief, desto mehr fing die Stimmung an zu kippen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich in der Mitte des Platzes irgendwann ein Sofa brennen sah. Da wusste ich schon, dass der Abend noch eine unerwartete Wendung nehmen wird. Wenig später vernahm ich die ersten kleinen Reibereien, hoffte aber, dass es nicht ausarten würde. Leider half das nicht. Auf einmal schepperte es neben mir. Was genau passiert war, konnte ich nicht einschätzen. Nur ein paar Zentimeter von mir entfernt erblickte ich einen maskierten Burschen, der auf einmal Anlauf nahm und auf eine Polizeieskorte zulief. Doch er war nicht allein. Mit einem Mal traten immer mehr Maskierte aus der Menge mit Bierflaschen hervor. Diese warfen sie alle Richtung Gesetzeshüter. Dann fingen die ersten Leute an zu rennen – und ich ebenfalls. Ich konnte nicht begreifen, was dort vor sich ging. Schnell begriff ich, dass es für mich an der Zeit war, die Party zu verlassen. Ich wollte mir die vergangenen unbeschreiblich tollen Momente nicht vermiesen lassen. Meine Entscheidung sollte sich als richtig entpuppen. Wie ich von dort verbliebenen Freunden und aus der Presse erfahren habe, wurde der Feld wortwörtlich wenig später geräumt – und zwar mit dem Einsatz von Wasserwerfern.
Die Vorkommnisse aus dem letzten Absatz kann ich zwar nicht komplett ausblenden, aber sie ändern nichts an der Tatsache, dass ich mich überwiegend in einem Glücksrausch befunden habe. Dieser überwiegt nach wie vor. Ich erwische mich oft dabei, wie ich jene Momente in meinem Gedächtnis abrufe und immer wieder vor meinem inneren Auge abspiele. Es mag sich vielleicht schwachsinnig anhören, aber an diesem 21. April 2018 wurden Gefühle in mir geweckt, die ich in der Form und mit einer unbeschreiblich heftigen Intensität noch nie zuvor in meinem Leben verspürt habe. Und ja, sie blieben bisher einmalig. Ich kann mir beim besten Willen auch nicht vorstellen, dass sich das auch nochmal wiederholen wird. Und obwohl sich der 1. FC Magdeburg nicht lange in der 2. Liga beweisen konnte, ist für mich glasklar: Dieser 21. April 2018 wird immer eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen.
