Antike Stücke sind nichts für ungeduldige Menschen. Sie ziehen sich in die Länge und wirken auf manche fast einschläfernd, da sie eine gefühlte Ewigkeit brauchen, um auf den Punkt zu kommen. An der Berliner Volksbühne steht mit „Eine Odyssee“nach Homer in der Regie von Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason ein Schauspiel auf dem Plan, das eine Dauer von vier Stunden beträgt. Wie machen sich die beiden, insbesondere der neue Schauspieldirektor des Theaters, diese 240 Minuten zunutze?
Das Werk des griechischen Dichters beginnt zehn Jahre nach dem Trojanischen Krieg. Doch nicht nach Arnarsson. Er nimmt sich genau diesen Handlungsstrang und benutzt ihn als eine halbstündige Einführung seines Stücks – und die hat es in sich! Die Darsteller stehen in zerschlissener Nude-Unterwäsche mit Mikrofonen auf einer drehbaren Bühne und widmen sich detailliert dem Mythos. Dabei sprechen sie zuerst langsam im Chor, unterstützt mit einer Live-Band. Doch die Geschwindigkeit nimmt immer mehr Fahrt auf. Textpassagen werden nicht mehr nur aufgesagt, sondern teilweise auch gesungen. Gänsehautmomente bleiben bei dieser Szenerie nicht aus.

Foto: Vincenzo Laera
Nach dem vielversprechenden Einstieg und einem kraftvollen Soundtrack droht die Stimmung allerdings zu kippen. Penelope (Johanna Bantzer) ist entsetzt darüber, dass ihr Mann Odysseus (Daniel Nerlich) seit Jahren nicht aus der Schlacht zurückgekehrt ist. Ihre Wut lässt sie an ihrem Sohn Telemachos (Nils Strunk) aus, der in ihren Augen seinem Vater nicht das Wasser reichen kann. Um ihm das deutlich zu machen, beschimpft sie ihren Sprössling auch gerne mal als „Arschfotze“. Nach anfänglicher Skepsis und gutem Zureden von Athene (Sarah Franke) macht Telemachos sich dennoch auf den Weg nach Sparta, um bei Menelaos (Theo Trebs) Informationen über den Verbleib seines Vaters zu erhalten. Doch der König des Staates der Lakedaimonier gibt lieber mit seiner prunkvollen Eroberung, der schönen Helena (Jella Haase) an, die Schuld an dem vergangenen blutrünstigen Konflikt sein soll. Ganz nebenbei hat der junge Kriegsheld für seinen Besuch auch noch ein paar Fitness- und Ernährungstipps parat, während seine Geliebte nicht darüber fertig wird, dass sie zum Buhmann der vergangenen (und auch zukünftigen) Geschehnisse gemacht wird.

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Ja, die „neu erzählte“ Version von Homers um 700 v. Chr. entstandenem Epos um die Irrfahrten des Kriegsheimkehrers ziehen sich in die Länge. Denn erst im zweiten Akt meldet sich der (vermeintliche) Held der griechischen Mythologie zu Wort und erzählt von seinen abenteuerlichen Erlebnissen und wie er knapp dem Tod entkommen ist. Mitten in seinem nicht enden wollenden Monolog wird er von seiner Geliebten Kalypso (Sólveig Arnarsdóttir) unterbrochen, die sich zusammen mit Zeus (Sarah Franke) um dessen Verbleib streitet. Arnarsson versucht mit seiner Inszenierung, jeden wichtigen Schwerpunkt der Überlieferung zu berücksichtigen, doch schafft es über die Dauer hinweg nicht, auf den Punkt zu kommen – und schon gar nicht an den fulminanten Anfang anzuknüpfen.
Die Ansätze des griechischen Epos bieten allerdings eine Menge Parallelen zu anderen historischen Ereignissen. Und daran bedient sich der Schauspieldirektor der Volksbühne mit einer präzisen Raffinesse. Er hält dem Publikum schonungslos vor Augen, dass die Historie sich immer und immer wieder wiederholt und die Menschheit nicht aus ihren Fehlern lernt. So lässt er beispielsweise von Sarah Maria Sander alias Kassandra eine ellenlange Liste der bekannten Kriege verlesen – inklusive Dauer und geschätzte Zahl der Opfer. Die dabei herauskommende Summe übersteigt jede Vorstellungskraft. Abgeschreckt fühlen sich davon allerdings nur einzelne Leute und Gruppierungen. In dieser Inszenierung steht vor allem Jella Haase als Helena für all die Protestanten, die für den Weltfrieden kämpfen. Die Schauspielerin appelliert minutenlang konsequent und unermüdlich mit ihrem zarten Stimmchen für Gerechtigkeit, so wie viele Leute es heutzutage auf Demonstrationen tun. Im zweiten Teil werden weitere Anspielungen auf das Kriegsgeschehen in Vietnam und Afghanistan gemacht. Besonders auffallend ist hier Silvia Rieger, die als Kämpfer namens Bashir ihrem Bruder, gespielt von Claudio Gatzke, ihren Alltag an der Front schildert.

Foto: Vincenzo Laera
Aber „Die Odyssee“ hält dem Publikum nicht nur einen Spiegel für die Grausamkeit der Menschheit vor. Die Inszenierung hat auch einige amüsante Szenen parat. So ist es vor allem Nils Strunk, der als unsicherer Telemachos probiert, mit dem Publikum Kontakt aufzunehmen und versucht, mit seinem fachmännischen Wissen über Selbstjustiz zu glänzen. Es ist aber vor allem die Situationskomik, der sich Strunk hier herausragend bedient. Theo Trebs zieht als Menelaos alle Blicke auf sich, sobald er die Bühne betritt. Das liegt nicht unbedingt an seinem Körper, der mit weißer Farbe verziert wird, der einer antiken Figur gleicht, sondern hauptsächlich an seiner Selbstverliebtheit und seinen gut gemeinten Ernährungsratschlägen. Aber auch Sarah Franke unterhält mit ihrer recht ungewöhnlichen Zeus-Darstellung mit pointierten Slapstick-Humor die Anwesenden im Saal. Daniel Nerlich schafft es hingegen, die Zuschauer an seinen nicht enden wollenden Dialog als Odysseus zu fesseln und sorgt mit seinem übersteigenden Narzissmus für einige Schmunzler.
Woran es in Arnassons Produktion auf jeden Fall nicht mangelt, ist die gewaltige Bildsprache, die er immer wieder durch das Bühnenbild von Daniel Angermayr einsetzt. Von prägnanten Lettern, die er immer wieder in den Raum kommen lässt, über eine Mauer aus Pappkartons, die von den Protagonisten selbst mit aktuellen Sprüchen versehen werden bis hin zu einem rollenden Panzer mit einer Papierschnipsel-Kanone ist dem gebürtigen Isländer kein stilistisches Mittel zu schade. So gelingt es ihm sogar, einen heftigen Sturm auszulösen, der nicht nur die Darsteller umhüllt, sondern auch vor dem Publikum auf den Rängen keinen Halt macht.
„Die Odyssee“ in der Inszenierung von Thorleifur Örn Arnasson und Mikael Torfason nimmt zwar anfangs viel Fahrt auf, drückt aber recht schnell wieder auf die Bremse. Es werden alle erdenklichen Mittel eingebunden, die im Theater eine Verwendung finden. Jedoch mangelt es dort an Ausgewogenheit dieser Einsätze. Bei so wenig Variation ist es nicht verwunderlich, dass die vier Stunden für manche Rezipienten zur Unendlichkeit werden. Doch dieser Aspekt macht das Bühnenstück keineswegs zu einer Nullnummer. Allein wegen der herausragenden Chorperformance und dem darauf abgestimmten fulminanten Bass-Drum-Sound mit hämmernden Klavierklängen lohnt sich ein Besuch an der Volksbühne. Aber auch die griechische Mythologie in Kombination mit allen anderen Kriegsgeschichten aus der Welt sind ebenfalls nicht ohne. Arnasson und Torfason schaffen es mit ihrem neu erarbeiteten Text von Homer, starke Bilder in den Köpfen des Publikums zu erzeugen, die fernab jeder Realität liegen – und dennoch von wahren Ereignissen geprägt ist. Um die Konflikte in der Welt noch mal deutlich hervorzuheben, steht jeder Schauspieler in dem Stück mit seiner Figur für ein politisches Merkmal, welches sich auf alle Zeiten übertragen lässt. Besonders stark transportieren die Akteure dies in ihren ganz persönlichen Monologen – und zwar mit Bravour.

Foto: Vincenzo Laera
Tickets für „Eine Odyssee“ gibt es an der Theaterkasse der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz sowie im Netz unter www.volksbuehne.berlin/de/.